G. Schmid-Weiss: Schweizer Kriegsnothilfe im Ersten Weltkrieg

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Titel
Schweizer Kriegsnothilfe im Ersten Weltkrieg. Eine Mikrogeschichte des materiellen Überlebens mit besonderer Sicht auf Stadt und Kanton Zürich


Autor(en)
Schmid-Weiss, Gertrud
Reihe
Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaf (10)
Erschienen
Köln 2019: Böhlau Verlag
von
Burkhard Daniel

Nachdem die Zeit des Ersten Weltkriegs in der schweizerischen Geschichtsforschung lange kaum Beachtung fand, erfuhr das Thema aufgrund des 100-jährigen Gedenkens jüngst einen Forschungs- und Publikationsschub. Besonders die Frage nach Ursachen und Wirkungen des Landesstreiks im November 1918 erfreut sich in diesem Zusammenhang grosser Aufmerksamkeit der Historikerzunft.

Das hier zu rezensierende Werk ergänzt wunderbar die zahlreichen Publikationen und schliesst mit dem mikrogeschichtlichen, quellennahen Fokus auf die Kriegsnothilfe im Kanton Zürich eine wichtige Lücke in der Erforschung sozialer Rahmenbedingungen während des Ersten Weltkrieges in der neutralen und vom Krieg weitgehend verschonten Schweiz.

Schmid-Weiss interessiert sich im Sinne einer mikrohistorischen Geschichtsschreibung «von unten» für die Auswirkungen des Krieges auf den Alltag der Menschen. Dabei gilt ihr Augenmerk einerseits den Alltagserfahrungen der wirtschaftlich schwächeren Bevölkerung im Kanton Zürich, andererseits aber auch dem Handlungsspielraum und den Arbeitsbelastungen der ausführenden Behörden und Institutionen (S. 20).

In Anlehnung an Hiebl und Langthaler orientiert sich die Autorin an der Tatsache, dass die «Komplexität des Mikroraumes»1 niemals durch den alleinigen Blick auf das Kleine adäquat abgebildet werden kann und die mikrogeschichtliche Perspektive daher einer genauen Kontextualisierung der Rahmenbedingungen bedarf (S. 14). Ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen untersucht die Autorin über ein dichtes Quellenkorpus bestehend aus Beihilfegesuchen, Beschwerden und Darlegungen aus dem Staatsund Stadtarchiv Zürich den individuellen Alltag notleidender Menschen und Behörden während des Ersten Weltkriegs und zeichnet gleichzeitig die Wechselwirkungen dieser alltäglichen Ebene mit den strukturellen, legislativen Dimensionen der kantonalen wie auch der eidgenössischen Gesetzgebungen nach.

Im ersten einleitenden Kapitel werden die Strategien der Kriegsnothilfe bei Kriegsbeginn thematisiert. Die konkrete Ausgestaltung dieses Bereichs auf der kantonalen und der kommunalen Ebene war gerade vor dem Hintergrund föderaler Strukturen äusserst komplex. Die Schaffung eines entsprechenden Ämtergefüges erwies sich deshalb als herausfordernd (S. 53). Ferner stellt die Autorin fest, dass die Verantwortlichen bemühat waren, die Zugangsberechtigungen zur Nothilfe restriktiv zu handhaben, wodurch eine – auch in erzieherischer Absicht geprägte – Unterstützungswürdigkeit zum eigentlichen Kriterium für ein Anrecht auf Kriegsnothilfe wurde (S. 58).

Im zweiten Kapitel untersucht Schmid-Weiss die allgemeine Unterstützungspraxis im Kanton Zürich. Einleitend zu diesem Hauptkapitel verweist die Autorin auf die wichtige Vereinbarung der Kantone im Frühjahr 1915, bei welcher eine je hälftige finanzielle Verantwortung der Heimat- und Wohngemeinde in der Kriegsnothilfe beschlossen wurde. Bei der ‘normalen’ Armenunterstützung lag die finanzielle Last ausschliesslich bei den Heimatgemeinden. Fortan war deshalb die Unterscheidung zwischen kriegsverschuldeter und nicht-kriegsverschuldeter Not zentral. Unverschuldete, also kriegsbedingte Not zog beispielsweise für die Nothilfebeziehenden keine Ehrenfolgen wie Stimmrechtsentzug oder Wirtshausverbot nach sich (S. 91). Anhand von einigen Fallbeispielen alleinerziehender und/oder arbeitsloser Väter und Mütter sowie von verarmten Familien verdeutlicht die Autorin die Notsituationen der betroffenen Menschen und gleichzeitig die Schwierigkeit der Behörden, entsprechende Entscheide zu fällen.

In Kapitel 3 werden gezielte staatliche Nothilfemassnahmen wie Notstandsarbeiten, die Verbilligung des Grundbedarfs oder der Mieterschutz vorgestellt und erneut anhand von Fallbeispielen aus dem Quellenmaterial konkretisiert. Insbesondere die sich in der zweiten Hälfte des Krieges weiter verschlimmernde wirtschaftliche und soziale Lage katalysierte die staatlichen Nothilfemassnahmen und führte zu einer Welle von Verordnungen, was die verantwortlichen Behörden zunehmend überforderte.

In zwei weiteren Kapiteln werden Nothilfemassnahmen wie Suppenküchen, die Nothilfe im Feld durch alkoholfreie Soldatenstuben, Fabrikkantinen und die Militärunterstützung für Notleidende thematisiert. Seit 1907 bestand eine Militärunterstützung für notleidende Soldaten, was Militärangehörige etwas besserstellte als von Not betroffene Zivilisten. Allerdings lastete auch auf der Nothilfeunterstützung des Militärs das Stigma der Schande, was viele Armeeangehörige davon abhielt, Nothilfe zu beanspruchen. Ferner verdeutlichen die intransparenten bürokratischen Prozesse die Willkür bei der Einteilung in kriegsverschuldete oder ‘normale’ Armut. Weitere Massnahmen zur Realisierung der Notstandsunterstützung wie beispielsweise die teilweise vollzogene Heimführung von Menschen in deren fremde Heimatgemeinde veranschaulichen die Schranken, die bei einer Beantragung von Nothilfe überwunden werden mussten.

Die besonders lesenswerten ersten drei Kapitel der Untersuchung liefern neue spannende Erkenntnisse über die Ausgestaltung der interkantonalen Verantwortung in der Kriegsnothilfe. Das Verweben der strukturellen, administrativen Ebene mit vielen spannenden Fallbeispielen konkretisiert die «Komplexität des Mikroraumes» und lässt den Leser an den individuellen Schicksalen von Menschen in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs teilhaben. Die letzten drei Kapitel bestechen ebenfalls durch die Verbindung zum konkreten Quellenmaterial. Allerdings sind die darin vorgestellten Massnahmen und Formen der Nothilfe aus der bisherigen Forschung bereits weitgehend bekannt.

Ferner ist es etwas schade, dass Schmid-Weiss ihre Analysen primär auf Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem industriellen Sektor ausrichtet und die produktionsseitigen Problemlagen, wie beispielsweise die katastrophale Witterung der Jahre 1916/17 in der Landwirtschaft zwar erwähnt (S. 184), aber analytisch dann doch ausklammert. Hierfür würden sich nämlich einige spannende Hinweise in ihren Quellen auftun, etwa, wenn Mina Frey-Zaugg in ihrem Bettelbrief vom Juli 1916 den notwendigen Einkauf von viel zu teurem Heu beklagt (S. 142). Gerade Frauen auf Kleinstbauernbetrieben sahen sich während dem Krieg ebenfalls grossen Herausforderungen gegenüber, weshalb sie nicht mit allfälligen landwirtschaftlichen Kriegsprofiteuren (S. 13) vermengt werden können. Dieser Kritikpunkt ist allerdings der umwelt- und agrarhistorischen Perspektive des Rezensenten geschuldet und soll mitnichten die Qualität der spannend zu lesenden und anregenden Untersuchung zur Kriegsnothilfe in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs schmälern.

1 Ewald Hiebl, Ernst Langthaler, Einleitung – Im Kleinen das Grosse suchen. Mikrogeschichte in Theorie und Praxis. Hans Haas und die Mikrogeschichte, in: dies. (Hg.): Im Kleinen das Grosse suchen. Mikrogeschichte in Theorie und Praxis. Hanns Haas zum 70. Geburtstag, Innsbruck 2012, S. 7–21, hier S. 7 (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raums).

Zitierweise:
Burkhard, Daniel: Rezension zu: Schmid-Weiss, Gertrud: Schweizer Kriegsnothilfe im Ersten Weltkrieg. Eine Mikrogeschichte des materiellen Überlebens mit besonderer Sicht auf Stadt und Kanton Zürich, Köln 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 199-201. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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